Die Freizügigkeit

Veröffentlicht in Kulturgeschichte

Die Freizügigkeit. Wohl in derselben Zeit, in der die neuen Städte gegründet und auf diese Weise grössere Mengen von Unfreien oder Leibeigenen die Freiheit erhielten, wurde anderen ein gewisses Mass von Freiheit gegeben durch die sog. Freizügigkeit, das Recht unter gewissen Bedin­gungen ihre Güter aufzugeben und den Hof zu verlassen. Sie gewannen dadurch allerdings nicht ihre volle Freiheit, sie blieben nach wie vor allen Lasten und Pflichten der Unfreiheit unterworfen, aber sie waren doch nicht mehr wie früher unbedingt an die Scholle gebunden, sie konnten vielmehr, wenn sie etwa von ihren Herren allzusehr gedrückt wurden, sich der auf ihnen lastenden Tyrannei entziehen, ohne befürchten zu müssen, dass sie an dem neuen Aufenthaltsorte von ihren Herren zurückgefordert würden. Einen wenigstens der Gründe des Auszuges berührt ein Weistum von Dockweiler (Lamprecht, I 1209; Grimm II 436): "abe der her dem man zu dick thete, das er des nit herden mögt, so magh der man schones dogs und heiders hiemels eine gesandt (?) in seine hant nemen und zwene seiner nachpuren bei sich holen und sol sprechen: dieser her thut mir zu dick, ich wil von diesem hern hinder den andern hern". In unseren Weistümern wird als Ursache des Auszuges angegeben, dass der arme Mann sich nicht ernähren könne.


Der Auszug darf nicht heimlich geschehen; wer abziehen will, muss vielmehr dreimal von vierzehn zu vierzehn Tagen, vor der Kirche oder auf der Strasse, seine Absicht mitteilen und hinzufügen, er stehe hier, mit Gold und Silber in der Hand, um diejenigen zu befriedigen, denen er etwas schuldig sei; hat er dann seine Gläubiger befriedigt, so weist man ihn einen der vier Wege aus, welchen er will, um einen andern Ort zu erreichen, an dem er denkt, besser wirtschaften zu können. Einige unserer Weistümer schreiben vor, dass der Herr oder der Vogtherr ihm, wenn er es begehrt, auf eine Bannmeile Wegs das Geleite geben soll; die meisten sehen den Fall vor, dass er unterwegs nicht mehr vorankommt, weil er verladen ist, d h. weil sein Wagen zu schwer beladen ist, oder weil er versunken, d h weil ihm der Wagen im Schmutz stecken geblieben ist. Trifft er in diesem Falle etwa seinen Herrn, dessen Dienst er eben verlässt, so muss dieser mit einem Fusse aus dem Sattel steigen und ihm das Rad andrücken, einmal, auch wohl dreimal, dass das hintere Rad dorthin stehen kommt, wo das vordere Rad stand. Ein Weistum zeigt uns genauer, worin diese Hilfeleistung des Herrn bestehen soll; im Fall eines solchen Zusammentreffens sollen nämlich die Diener des Herrn dem Abziehenden helfen und der Herr selbst erst dann Hand anlegen, wenn die Hilfe der Diener unzureichend ist.


Keines unserer Dörfer ist durch einen geistlichen Herrn befreit worden; die Freizügigkeit dagegen finden wir meistens an Orten geistlicher Gerichtsbarkeit, die den Abteien von S. Maximin bei Trier oder S. Willibrord von Echternach zugehören.Verlässt der Abziehende auf die angegebene Weise sein Gut, so fällt dieses in des Herrn Hand, der es demnach einem andern übergeben kann. Kommt aber der Abziehende selbst oder einer seiner Erben, innerhalb 101 Jahren 6 Wochen und 3 Tagen zurück, so wird er wieder in den Besitz der Güter eingesetzt, muss aber selbstverständlich alle rückständigen Zinsen bezahlen und dem bisherigen Besitzer die für Besserung oder Aufbau der Gebäulichkeiten aufgewandten Gelder bezahlen."Ist der Gehöfer" (Lamprecht I 1211) auf die geschilderte Art frei ausgezogen, so ist er für die Herren und die Bevölkerung seines künftigen Aufenthaltsortes ein herkommender, d. h ein mit Recht ausgezogener und mit Recht aufzunehmender Mann. Denn der aufnehmende Herr soll sich vergewissern, ob der Aufnahme suchende Mann wirklich freien Zug hat, d.h aus freiem Ort kommt oder von seinem Herrn entlassen ist und seine Schulden am Abgangsorte bezahlt hat. Ist das der Fall, so nimmt ihn der neue Herr auf und weist ihn in sein neues Besitztum. Fest aber wird das neue Verhältnis erst nach Jahr und Tag, nachdem eine Reklamation seitens des "nachfolgenden" Herrn nicht stattgefunden hat".


Die Gewährung der Freizügigkeit ist, meines Erachtens, wesentlich auf die den neuen Städten im Verlauf des dreizehnten Jahrhunderts gegebene, absolute Freiheit zurückzuführen, denn diese war derart verlockend, dass jedenfalls schon gleich nach den ersten Neugründungen eine allgemeine Landflucht der Leibeigenen begann. Wir sehen schon in den Jahren 1236 und 1244 die Gräfin Ermesinde ihre Vorkehrungen treffen, damit weder ihre eigenen Interessen noch die ihrer Vasall en durch diese Landflucht geschädigt würden. Indem sie nämlich den Städten Echternach und Luxemburg die Freiheit gab, tat sie dieses unter der ausdrücklichen Bedingung, dass diese Städte weder ihre Eigenleute noch die ihrer Vasallen als Bürger aufnehmen dürften, ausgenommen, was freilich nicht gesagt ist, diejenigen, die in regelrechter Weise von ihren Herren abgegeben waren; aber, wie sie so für ihr Interesse und dasjenige ihrer Vasallen eintrat, so sorgte sie auch für das Interesse der Städte, indem sie die Aufnahme anderer Leibeigenen als der erwähnten nicht verbot; diese konnten vielmehr aufgenommen werden, nur hatte der Herr, wenn sie nicht mit Recht abge­geben wurden, das Recht, sie innerhalb Jahr und Tag zurückzufordern; geschah dieses nicht, so waren und blieben sie freie Bürger der betreffenden Stadt gemäss dem Prinzip, dass Stadtluft frei mache.Liess sich daher ein Leibeigener, der nach dem Rechte der Freizügigkeit seinen alten Wohnsitz verlassen hatte, in einer freien Gemeinde nieder, so wurde er selbst frei; der frühere Herr hatte sogar nicht einmal ihm gegenüber das Recht der Nachfolge, d. h. das Recht ihn innerhalb Jahr und Tag zurückzufordern, sofern er bei seinem Abzuge all seine Schulden bezahlt hatte und auch sonst allen anderen Verpflichtungen nachgekommen war. Aber der Umstand allein, dass er infolge des Rechtes der Freizügigkeit aus seinem alten Wohnsitze fortzog, machte ihn keineswegs zum freien Mann; das wurde er nur durch die Aufnahme in eine freie Gemeinde; trat er dagegen in eine unfreie Gemeinde ein, so blieb er unfrei und übernahm dem neuen Herrn gegenüber dieselben Verpflichtungen wie die andern Bewohner des Ortes, wenn nicht etwa sein neuer Herr ihm ein grösseres Mass von Freiheiten oder gar die volle Freiheit gab.

 

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